Forschungsbericht 1994


Allgemeine Einführung

Wichtige Beiträge zu allen Aspekten der neuralen Entwicklung stammen sowohl aus der Invertebraten- als auch aus der Vertebratenforschung. Beide rücken immer näher zusammen, seit sich gezeigt hat, daß viele grundlegende Mechanismen vergleichbar sind. Die Entschlüsselung der axonalen Wegfindung, der Zielerkennung und der Synapsenstabilisierung sind ein zentrales Anliegen der Neurobiologie. Für das Verständnis der Gehirnentwicklung ist es essentiell zu wissen, wie die Spezifität der neuronalen Verknüpfungen zustandekommt, wie Zellpopulationen, die weit voneinander entfernt sein können, es schaffen, miteinander spezifische Synapsen auszubilden. Die anwendungsbezogene Relevanz solchen Wissens für Medizin und Biotechnologie liegt auf der Hand, wenn z.B. bedacht wird, daß bei der Regeneration von Nerven ähnliche Mechanismen wirksam sind wie während der Embryogenese. Bereits heute werden Kenntnisse über zelluläre Mechanismen axonaler Wegfindung in der Neurochirurgie eingesetzt. Molekularer Erkenntnisgewinn wird ebenso beitragen.

Wir haben erstmals ausgehend von Gehirnstrukturmutanten das Gen für ein neurales Zelladhäsionsmolekül kloniert, das gewebsspezifisch u.a. an der Induktion von programmiertem Zelltod und an Erkennungsprozessen bei der axonalen Weg- und Zielfindung im optischen Lobus von Drosophila beteiligt ist. Es ist uns heute mit Hilfe seiner Fehlexpression möglich, die Gehirnentwicklung von Drosophila in neue Bahnen zu lenken. Diese experimentelle Beeinflußbarkeit der axonalen Wegfindung durch die Fehlexpression eines neuralen Erkennungsmoleküls läßt hoffen, daß die zugrundeliegenden molekularen Mechanismen aufgedeckt werden, und die strukturelle Aehnlichkeit von Vertebratenmolekülen läßt erwarten, daß hiervon auch die Forschung an Vertebraten profitieren wird.


Das irreC-rst Gen von Drosophila melanogaster mit Bedeutung für axonale Projektionen und programmierten Zelltod kodiert für ein neues Immunglobulin-ähnliches Protein

Mutationen im irreC-rst Gen können eine Reduktion des programmierten Zelltods bei der Augenentwicklung und axonale Projektionsdefekte verursachen (Boschert et al. 1990, Ramos et al. 1993). Das Gen kodiert für ein Transmembranprotein (IRRE C-RST ) mit Homologie zu Mitgliedern der Immunglobulin-Superfamilie mit 5 Ig-Domänen. Die ersten beiden Ig-Domänen zeigen Merkmale von V-Domänen, die anderen drei sind eindeutig vom C2-Typ. Die größte Homologie besteht zum axonalen Oberflächenmolekül des Huhns (DM-GRASP/BEN/SC1). Im Gegensatz zu N-CAM besitzt das IRRE C-RST Protein keine Fibronectin-Domänen. Die relativ große cytoplasmatische Domäne (208 AS) zeigt keine auffällige Homologie zu bekannten Proteinen, enthält jedoch zwei putative Tyrosin- und drei putative Serin / Threonin-Phosphorylierungsstellen.


Zusammenstellung einiger neuraler Zelladhäsionsmoleküle der Immunglobulinsuperfamilie aus Vertebraten und Invertebraten


Das IRRE C-RST Protein markiert seriell angeordnete Säuleneurone im visuellen System während der Axono- und Synaptogenese

Wir haben monoklonale Antikörper gegen die extrazelluläre Domäne des IRRE C-RST Proteins hergestellt. Im Nervensystem ist das IRRE C-RST Protein auf den Axonen von wenigen Neuronentypen praktisch ausschließlich während den Phasen des Wachstums und der Synaptogenese zu finden. Im optischen Lobus markiert Anti-IRRE C-RST die seriell angeordneten Säulenneurone eines Funktionsweges (Publikation wird vorbereitet).


Expressionsmuster des IRRE C-RST Proteins im optischen Lobus von Larve und Puppe


Die intakte intrazelluläre Domäne des IRRE C-RST Proteins ist für den Einbau des Proteins in die Plasmamembran (oder seinen Verbleib hierin) und die Induktion von programmiertem Zelltod bei der Augenentwicklung notwendig

In dem sich entwickelnden Komplexauge findet sich irreC-rst mRNA nach Abschluß der Ommatidienbildung nur noch in der Zellpopulation zwischen den Ommatidien, welche durch programmierten Zelltod bis auf die normalen Interommatidialzellen (sekundäre und tertiäre Pigmentzellen und Borstenkomplex) reduziert wird.


Konfokale Aufsicht auf eine anti-IRRE C-RST markierte Retina 60 h nach der Verpuppung. Das IRRE C-RST-Protein findet sich (nur apikal!) an der Kontaktzone der sekundären und tertiären Pigmentzellen (= Interommatidialzellen) zu den primären Pigmentzellen und an den Kontaktstellen der beiden primären Pigmentzellen zueinander. Das Protein akkumuliert nicht an den Grenzflächen zwischen den Interommatidialzellen, obwohl diese mRNA und Protein herstellen.


Konfokale Aufsicht auf eine anti-IRRE C-RST markierte Retina einer rst(CT)-Mutante 60 h nach der Verpuppung. Das mutante IRRE C-RST-Protein akkumuliert in globulären Strukturen innerhalb der Interommatidialzellen und ist kaum in der Plasmamembran vorzufinden. Die Zahl der Interommatidialzellen wird nicht durch Zelltod reduziert; eine reihige Anordnung der Interommatidialzellen findet nicht statt.


Interessanterweise ist das IRRE C-RST Protein jedoch nicht an der Kontaktfläche zwischen sekundären und tertiären Pigmentzellen zu finden, sondern nur an der apikalen Kontaktfläche dieser Zellen zu den primären Pigmentzellen, ein eindeutiger Hinweis auf heterophile Bindung.

Die rst(CT)-Mutation verkürzt die cytoplasmatische Domäne von IRRE C-RST, wodurch auch die putativen Tyrosin-Phosphorylierungsstellen eliminiert werden (Ramos et al. 1993). Das so veränderte Protein wird nicht mehr in die Zellmembran eingebaut (oder verweilt dort nur sehr kurz) und akkumuliert in globulären Strukturen. Hiermit korreliert das Ausbleiben des programmierten Zelltods, so daß zwischen den Ommatidien zuviele Zellen liegenbleiben.

Aus unseren Daten ergibt sich ein möglicher Wirkmechanismus des IRRE C-RST Proteins während der Entwicklung des Komplexauges. Wir favorisieren z.Zt. ein Modell, nach dem das IRRE C-RST Protein für das Aufreihen der Interommatidialzellen verantwortlich ist. Der Kontakt zu den primären Pigmentzellen wird maximiert, der Kontakt untereinander minimiert. Erst diese Aufreihung ermöglicht die Identifizierung der Todeskandidaten. In rst(CT)-Mutanten findet die Induktion von Apoptose nicht statt, da die Umlagerung der Interommatidialzellen ausbleibt, weil IRRE C-RST nicht in der Membran der Zellen sitzt und die entsprechenden Kontaktpräferenzen nicht mehr vermitteln kann.

Möglicherweise beruht die Lokalisation des mutanten IRRE C-RST-Proteins in vesikulären Strukturen darauf, daß die veränderte cytoplasmatische Domäne nicht mehr mit Faktoren wechselwirken kann, die für den stabilen Einbau in die Plasmamembran notwendig sind. Der erste experimentelle Hinweis darauf, daß der B-Zellrezeptor ein Proteinkomplex ist, ergab sich übrigens daraus, daß mIgM in einigen transfizierten Zellinien zwar gebildet, aber nicht in die Plasmamembran eingebaut wurde. Diesen Zellinien fehlte wahrscheinlich die alpha- oder beta-Untereinheit des Rezeptorkomplexes. Ähnliche Ergebnisse haben wir mit Hilfe des GAL4/UAS-Systems in vivo mit der Fehlexpression von wildtypischem IRRE C-RST erhalten. In einigen Zelltypen findet sich das fehlexprimierte IRRE C-RST fast ausschließlich in der Zellmembran, in anderen Zelltypen (z.B. in Neuronen des Zentralhirns) akkumuliert das Protein in vesikulären Strukturen. Wir schließen daraus, daß IRRE C-RST zelltypspezifisch exprimierte Faktoren für den Einbau in die oder den Verbleib in der Zellmembran benötigen könnte, und möchten diese Faktoren isolieren.

Fehlexpression einer irreC-rst cDNA und die Erzeugung dominanter Phänotypen

Durch die Hitzeschockpromotor-gesteuerte Ueber- oder mit Hilfe des GAL4/UAS-Systems zelltypspezifisch gezielte Fehlexpression von irreC-rst cDNA studieren wir z.Zt. die Wirkung des IRRE C-RST Proteins auf axonale Wegfindung und Zelltod. Ein wichtiges Ergebnis dieser Versuche ist, daß IRRE C-RST Fehlexpression nicht überall im Nervensystem, aber mit 100% Penetranz im Sehsystem zu mutanten Phänotypen, z.B. zu axonalen Projektionsdefekten, führt (mehrere Publikationen in Vorbereitung). Die zelltypspezifische Wirksamkeit der IRRE C-RST-Fehlexpression legt nahe, daß dieses Protein nur in Wechselwirkung mit anderen zelltypspezifisch exprimierten Faktoren funktionieren kann. Für die Suche nach solchen Faktoren ist wichtig, daß uns transformante Drosophila-Linien mit wesentlich erhöhtem IRRE C-RST Proteingehalt zur Verfügung stehen.


Fehlexpression bewirkt axonale Fehlnavigation im optischen Lobus von GAL4/UAS-irreC Transformanten


Fehlexpression von Genen für andere neurale Zelladhäsionsmoleküle

Zum Studium der in vivo Funktion des BEN -Proteins, des IRRE C-RST homologen axonalen Oberflächenmoleküls des Huhns, haben wir transgene Fliegen hergestellt. Seine mögliche Funktion soll im Modellsystem Drosophila untersucht werden.


anti-BEN Immunoreaktivität im ZNS von GAL4(1407)/UAS-ben hybriden Drosophilalarven. Die kugelförmigen Gehirnhemisphären und der ventrale Zapfen (Bauchmark) sind gut erkennbar. Das BEN-Protein ist vor allem in synaptischen Bereichen nachweisbar (helle, zentrale Bereiche) und weniger in den Zellkörpern, die peripher angeordnet sind.


BEN wird in Drosophila wie im Huhn hauptsächlich auf axonalen Membranen gefunden. Wenn BEN molekülautonom wirkt, wie man für ein homophiles Adhäsionsmolekül unbefangenerweise annehmen könnte, sollte seine Expression in Neuronenpopulationen axonale Projektionen beeinflussen. Bisher konnten wir hierfür jedoch keinen Hinweis finden. Die Nervensysteme aller bisher untersuchten, BEN teilweise sehr stark exprimierenden Transformanten waren unauffällig. Dies werten wir als Indiz dafür, daß BEN entweder in vivo primär heterophile Bindungen eingeht oder modifizierende Faktoren für seine homophilen Eigenschaften benötigt, die in Drosophila fehlen, oder Signaltransduktionsprozesse für seine Funktion notwendig sind. Kandidatenmoleküle für wechselwirkende Faktoren könnten neben BEN in Drosophila koexprimiert werden.

Hinweise für zelltypspezifisches Prozessieren der IRRE C-RST und BEN Moleküle ergeben sich aus dem Vergleich der intrazellulären Lokalisation dieser Proteine in verschiedenen GAL4-Linien. BEN und IRRE C-RST können je nach Zelltyp in unterschiedlichen Kompartimenten akkumulieren. Im Cytoplasma sind beide Proteine in vesikulären Strukturen zu finden. Der Einbau kann in die Membran des Zellkörpers, des Zellkörperfadens oder des Axons erfolgen. Eindrucksvoll ist die Verschiedenheit der Lokalisation beider Proteine in manchen Zelltypen des Zentralhirns. Hier ist IRRE C-RST z.B. in der GAL4-Linie 1407 auf Zellkörpern und Zellkörperfäden zu finden, während BEN im gleichen Stamm im Neuropil auf den Axonen vorkommt. Ob diese von Zelltyp zu Zelltyp unterschiedliche Lokalisation mit einer unterschiedlichen posttranslationalen Modifikation einhergeht, kann untersucht werden.

Vergleichende Untersuchungen sollen mit anderen Proteinen der Ig-Superfamilie durchgeführt werden (z.B. für NCAM, L1, Axonin-1, Fasciclin II und Neuroglian).


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